Überwachung für Kinderschutz – oder doch das Offensichtliche?
Die EU plant seit geraumer Zeit die Schwächung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die bisher private Kommunikation auf wirksame Art vor staatlichem, aber auch kriminellem Abhören und Mitschneiden schützt. Die Mitgliedsstaaten sollen sogar „herausragende Fälle“ sammeln, die in der Fantasie der Überwachungsfanatiker geeignet sind, die Notwendigkeit zu belegen, dass wir alle besser dran sind, wenn unsere private Kommunikation entschlüsselt, belauscht und kontrolliert wird.
Es geht wieder, mangels aktueller Terroranschäge als übliche Lieblingsausweichbegründung, um den vorgeblichen Schutz von Kindern vor Missbrauch. Wenn jedes Bild, das Oma von der Familie über WhatsApp bekommt, von fragwürdigen „künstlich intelligenten“ Modellen gescannt und bei einem „Treffer“, egal ob richtig oder falsch, an die Polizei übermittelt wird, soll das irgendwie die echten Kriminellen von ihrem Tun abhalten. Wer’s glaubt, wird selig.
Aber die Schlagzeilen drehen sich in diesen Tagen um ein anderes, oberflächlich gesehen gar nicht verbundenes Thema: Einen Ex-Papst, der von einem juristischen Gutachten belastet wird, bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen weggesehen und damit weitere Taten ermöglicht zu haben. Die Studie über Kindesmissbrauch von München-Freising, einige Monate davor jene aus Frankreich, davor weitere aus Deutschland usw., erregen die Gemüter, und nur wenige fragen sich: Was ist eigentlich in Österreich los?
Im ZiB2-Interview lobte Pastoraltheologe Paul Zulehner den österreichischen Weg als „der Weltkirche um Jahrzehnte voraus“. Der direkten Frage des Interviewers, ob in Österreich eine ähnliche Aufarbeitung nötig wäre, wich er geschickt aus.
Seit 2010 gibt es in Österreich eine „unabhängige“ Opferschutzkommission, die seit 12 Jahren ehrenamtlich von der als nicht wirklich kirchenkritisch geltenden ehemaligen ÖVP-Politikerin Waltraud Klasnic geleitet wird. Sie war beim berüchtigten Gebetsabend im Parlament Vorbeterin, ohne irgendeine parlamentarische Funktion. Diese Kommission ist aber nur ein kleiner Teil des Gesamtprozesses der „Entschädigung“ von Betroffenen, der auf der von der Bischofskonferenz betriebenen Webseite Ombudsstellen beschrieben ist. Die Meldung des Missbrauchs geschieht bei der von der jeweiligen Diözese betriebenen Ombudsstelle, dann entscheidet eine „Diözesane Kommission“ über die Vorwürfe, und erst danach wird die „unabhängige“ Kommission eingeschaltet. Ein Vorgang, der ideal dafür geeignet scheint, dass die Kirche die Vorwürfe intern behandeln und das Schweigen der Betroffenen erkaufen kann. Eine Meldepflicht besteht nur an die Inquisition, Entschuldigung: „Glaubenskongregation“ im Vatikan.
Eine wahre österreichische Lösung, den anderen Ländern in der Vermeidung von Empörung und Austrittswellen tatsächlich „Jahrzehnte voraus“.
Die Ombudsstellen publizieren auch die Zahl der positiv entschiedenen Missbrauchsfälle. Mit dem Internet Archive lassen sich die früheren Zahlen abrufen und ergeben fürs 4. Quartal 2021 92 neue Fälle – für jeden Tag einen. Die Staatsanwaltschaften hätten genug zu tun, der Anfangsverdacht steht bereits auf der Webseite der Bischofskonferenz. Die Anzahl der sexuellen Missbrauchsfälle (29 % von 2.642), verglichen mit der Anzahl aus der München-Untersuchung, würde ergeben, dass aktuell 64 oder 65 Ermittlungsverfahren laufen sollten. Bekannte Anzahl: 0.
Aber das alles hat mit Aufarbeitung historischer Fälle und der Verantwortung der Vorgesetzten nichts zu tun. Der aktuelle Prozess ist weder für die Erfassung alter Fälle gemacht, noch dafür geeignet. Österreich muss endlich handeln und auch eine eigene Aufarbeitung starten, und darf diese keinesfalls der Kirche überlassen. Es gibt noch Chancen dafür. In den Diözesen könnten noch Unterlagen liegen, die die Beschwerden von vor 2010 und die (Nicht-)Reaktion darauf enthalten. Es braucht eine staatliche Untersuchungskommission mit ungehindertem Zugriff auf alle Archive – auch auf Geheimarchive, die, wie wir aus deutschen Gutachten wissen, die Bischöfe für die besonders argen Fälle separat betrieben haben.
Eine Regierung, die die gesamte Bevölkerung für einen ominösen, nicht ordentlich begründeten und sinnlosen „Kinderschutz“ überwachen will und gleichzeitig bei bekannten Verbrechen einer Organisation, die am liebsten eigene Gesetze hätte, wegschaut, hat unser Vertrauen nicht verdient.
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